COVID-19 markiert den Beginn einer drohenden Ernährungskrise
Innovative, koordinierte und auf den Menschenrechten basierende Reaktionen können die Katastrophe abwenden.
Foto: Tim Denell
FIAN, die internationale Menschenrechtsorganisation für das Recht auf Nahrung, warnt in einem neuen Bericht vor einer drohenden Nahrungsmittelkrise. Die Auswirkungen des Virus und die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung verschärfen die strukturellen Ursachen von Hunger und Mangelernährung weltweit, aber innovative, koordinierte und auf den Menschenrechten basierende Reaktionen können uns vor einer Katastrophe bewahren.
Zwölf Jahre nach der Nahrungsmittelpreiskrise 2007/2008 befindet sich die Welt inmitten einer der auf vielen Ebenen dramatischsten globalen Krisen unserer Zeit. Die Pandemie COVID-19 führt die Menschheit nicht nur in eine beispiellose gesundheitliche Notlage, in der die Mängel unserer Gesundheits- und Sozialsysteme am deutlichsten zutage treten, sondern sie verschärft auch Hunger und Unterernährung.
Wie ein heute von FIAN International veröffentlichter Monitoring-Bericht zeigt, verstärken die Auswirkungen der Pandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckung die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, die den Menschen den Zugang zu angemessener Nahrung verwehren.
„Auch wenn die sich abzeichnende Ernährungskrise durch COVID-19 und die zu ihrer Eindämmung ergriffenen Präventivmaßnahmen ausgelöst wurde, findet sich ihre Grundlagen in jahrzehntelanger neoliberaler Politik und Praxis, die Ungleichheit und Diskriminierung weltweit verschärft haben. Der Bericht macht deutlich, dass nicht nur gezielte Maßnahmen erforderlich sind, um dieser Pandemie zu begegnen, sondern auch eine öffentliche Politik, die die Art und Weise, wie unsere Gesellschaften organisiert sind und das Wirtschaftssystem funktioniert, grundlegend verändert. Wir können einfach nicht zur Normalität zurückkehren“, betont Lukas Schmidt, Geschäftsleiter von FIAN Österreich.
Der vorläufige Monitoring-Bericht über die Auswirkungen von COVID-19 auf das Menschenrecht auf Nahrung und Ernährung listet die drastischen Auswirkungen der gegenwärtigen Krise auf das Leben der Menschen auf und hebt auch lokale und nationale Reaktionen von Graswurzelbewegungen und politisch Verantwortlichen hervor, die andernorts als Inspiration dienen können. Auf der Grundlage dieser vorläufigen Erkenntnisse und der strukturellen Ursachen von Hunger und Unterernährung gibt FIAN International eine Reihe von Empfehlungen für Regierungen auf der ganzen Welt.
Auswirkungen auf Zugang und gleichmäßige Verteilung von Lebensmitteln
Während sich in anderen Ländern bereits eine Verknappung bestimmter Lebensmittelarten abzeichnet, ist auch in Österreich Zugang zu ausreichenden Nahrungsmitteln dadurch eingeschränkt, dass Supermarktketten Vorrang vor lokalen Märkten und lokalen Kooperativen als Lebensmittelverteiler haben. In der Praxis sind industriell verarbeitete Produkte leichter erhältlich als frische und nahrhafte Lebensmittel von kleinbäuerlichen Lebensmitteproduzent*innen, was nicht nur das Einkommen der letzteren stark beeinträchtigt, sondern auch den Zugang der Menschen zu gesunder und vielfältiger Ernährung verhindert.
Es ist damit zu rechnen, dass sich die Einschränkungen in Bezug auf Zugang und Qualität stärker auf diejenigen auswirken werden, die bereits mit Hunger und Mangelernährung konfrontiert sind. Einfach ausgedrückt: Übergewichtige und Fettleibige - beides Formen der Mangelernährung -, die weltweit mehr als 1,9 Milliarden bzw. 650 Millionen Erwachsene ausmachen, werden bei einer Infektion mit COVID-19 mit größerer Wahrscheinlichkeit schwerwiegendere Symptome und Komplikationen entwickeln. Ebenso haben unterernährte Menschen, die bereits vor dem Ausbruch 821 Millionen Menschen ausmachten, eine geringere Immunität, um gegen das Virus zu kämpfen.
Von Mobilitätseinschränkungen gegen die Ausbreitung der Pandemie besonders hart betroffen sind Hunderttausenden von temporären, saisonalen – oft migrantischen - Arbeitskräfte, die nicht mehr in der Lage sind, für ihre Arbeit zu reisen. Dies weckt nicht nur Besorgnis über den Verlust von Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommen für diese Gruppe, sondern auch über einen drohenden Mangel an frischen Produkten und eine beträchtliche Menge an verschwendeten Lebensmitteln.
Erfolgreiche Antworten von Zivilgesellschaft und Politik
In Krisenzeiten reichen Aufrufe zu moralischer Verantwortung und Solidarität nicht immer aus, und manchmal sind staatliche Regelungen notwendig.
Während die Regale in den Supermärkten geleert wurden und zugleich örtlichen Bauernhöfen die Abnehmer*innen für ihre frischen Lebensmittel fehlten, haben in Österreich, aber auch in Frankreich und Rumänien Bauernorganisationen aktiv gegen die Schließung von Bauernmärkten mobilisiert. Dies hat zu Richtlinien der Regierung geführt, die klarstellen, dass lokale Lebensmittelmärkte geöffnet bleiben und zugleich Maßnahmen getroffen wurden wie die Ausweitung der Marktflächen.
„Den österreichischen Bäuer*innen ist es gelungen, eine drohende Schließung der Bauernmärkte abzuwenden. Vertriebsstrukturen für Kleinbäuer*innen müssen nicht nur verteidigt, sondern ausgeweitet werden. Angesichts der massiven Verschiebungen, die infolge der Pandemie global im Ernährungssystem zu erwarten sind, spielen vielfältige, regionale, nachhaltige Lebensmittelproduzent*innen eine entscheidende Rolle für eine widerstandsfähige Agrarwirtschaft und die Gesundheit der Menschen“, betont Tina Wirnsberger, Projektleiterin bei FIAN Österreich, die Bedeutung von kleinbäuerlichen Versorger*innen für die erfolgreiche Bewältigung dieser Krise.
In einigen Ländern wird durch die Schließung von Schulen der Zugang zu Nahrungsmitteln für Kinder eingeschränkt oder Schulspeisungsprogramme durch Fastfood ersetzt. Zivilgesellschaftliche Initiativen in Ländern wie Indien setzen sich für Programme ein, die sicherstellen, dass Kinder sowie schwangere und stillende Mütter zu Hause mit nahrhaften Mahlzeiten versorgt werden.
Um einer möglichen Volatilität der Nahrungsmittelpreise und einem Mangel an lebensnotwendigen Nahrungsmitteln entgegenzuwirken, haben Argentinien und Kolumbien Maßnahmen zur Preisregulierung und Rationalisierung lebensnotwendiger Produkte eingeführt.
Die gegenwärtige Situation erfordert dringende Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, aber auch zur Verhinderung weiterer Ausgrenzung und sozialer Ungerechtigkeit, schließt der Bericht in seinen Empfehlungen. Vom Schutz der wichtigsten Nahrungsmittellieferanten der Welt, der Bauern und anderer Landarbeiter, bis hin zur Gewährleistung maßgeschneiderter Mechanismen zum Schutz der am stärksten ausgegrenzten Menschen gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die das Leben von Millionen Menschen in dieser drohenden Nahrungsmittelkrise wesentlich verbessern können.
Bericht zum Download (englisch)
Rückfragen: tina.wirnsberger[at]fian.at